Ein Massenevent im Zeichen der Polarisierung
In der britischen Hauptstadt kamen am Samstag mehr als 100.000 Menschen zu einer London Demonstration zusammen, die von dem umstrittenen Aktivisten Tommy Robinson organisiert und als „Unite the Kingdom Free Speech Festival“ beworben wurde. Die Polizei sprach von einer der größten rechten Mobilisierungen der vergangenen Jahre. In Teilen der City wurde es ruppig: Einsatzkräfte meldeten gewaltsame Auseinandersetzungen und hielten die Lager über weite Strecken voneinander getrennt.
In den Straßen dominierten Union Jacks und englische Flaggen. Auf Bannern stand „Stop the boats“ und „Send them home“ – Botschaften gegen Migration und Asyl. Viele forderten den Rücktritt der Labour-Regierung unter Premierminister Keir Starmer. Die Bilder erinnerten an frühere Märsche englischer Nationalisten, nur größer, lauter, professioneller organisiert.
Die London Metropolitan Police hatte wegen des erwarteten Andrangs und parallel laufender Premier-League-Spiele eine Urlaubssperre verhängt. Hunderte zusätzliche Kräfte waren im Stadtzentrum präsent, unterstützt von Hubschraubern und einem dichten Netz an Überwachungskameras. Die Behörden weisen wie üblich darauf hin, dass Teilnehmerzahlen bei derart großen, sich bewegenden Menschenmengen schwer exakt zu bestimmen sind – die Schätzung von „über 100.000“ gilt dennoch als imposant.
Parallel fand eine Gegendemonstration unter dem Motto „March Against Fascism“ statt, organisiert von „Stand Up to Racism“. Laut Polizei beteiligten sich etwa 5.000 Menschen, darunter Gewerkschafter, Studierende und Vertreter zivilgesellschaftlicher Gruppen. Ihre Botschaft: Dem Erstarken der extremen Rechten solle man mit Solidarität, Fakten und konkreten Verbesserungen in der Sozial- und Integrationspolitik begegnen.
Tommy Robinson – mit bürgerlichem Namen Stephen Yaxley-Lennon, 42 – ist Gründer der English Defence League und seit Jahren eine der prägenden Figuren der britischen extremen Rechten. Er wurde mehrfach verurteilt, unter anderem wegen Störung der öffentlichen Ordnung. 2018 musste er eine Haftstrafe antreten, 2024 erneut, nachdem er gegen eine gerichtliche Anordnung verstoßen hatte. Dabei ging es um falsche Behauptungen über einen syrischen Flüchtling; Robinson wurde später wieder entlassen. Seine Anhänger stilisieren ihn als Kämpfer für Redefreiheit, seine Gegner sehen in ihm einen Chronisten der Eskalation.
Die Kundgebung zog rechte Aktivisten und Politiker aus mehreren europäischen Ländern an. Unter den Anwesenden war nach Angaben aus dem Umfeld der Organisatoren auch Petr Bystron, EU-Abgeordneter der AfD. Dass Akteure aus verschiedenen Staaten zusammenkamen, zeigt, wie stark die Szene inzwischen grenzüberschreitend vernetzt ist – von gemeinsamen Auftritten bis zur Logistik für Anreisen per Buskonvoi. In sozialen Medien lief die Mobilisierung schon Wochen vorher auf Hochtouren. Unterstützer verwiesen auf prominente Fürsprecher im Netz, darunter den US-Techunternehmer Elon Musk; eine direkte Rolle über öffentliche Posts hinaus ließ sich am Wochenende nicht unabhängig belegen.
Konfliktlinien: Migration, Sicherheit, Deutungshoheit
Im Zentrum des Protests stand die Migrations- und Asylpolitik. Die Parole „Stop the boats“ – ursprünglich von den konservativen Tories popularisiert – wurde von Robinsons Lager übernommen. Die Überfahrten über den Ärmelkanal sind seit Jahren ein Reizthema. 2022 kamen mehr als 45.000 Menschen in kleinen Booten, 2023 knapp 30.000. Auch 2024 blieb die Route gefährlich und politisch aufgeladen. Die Labour-Regierung hatte vor ihrem Amtsantritt ein härteres Grenzmanagement und effizientere Verfahren in Aussicht gestellt, zugleich eine Abkehr von kostspieligen Symbolprojekten wie der Auslagerung von Asylverfahren. Genau dieses Spannungsfeld – „Härte zeigen“ vs. „rechtsstaatlich bleiben“ – nutzen rechte Gruppen, um Unmut zu organisieren.
Vor Ort ging es der Polizei um einen Balanceakt: Versammlungsfreiheit schützen, Konfrontationen verhindern. Nach dem britischen Public Order Act kann die Metropolitan Police Auflagen zu Routen, Zeiten und Aufstellungsorten machen. Am Samstag setzten Einsatzleitungen auf Pufferzonen, Abschirmungen und das zügige Auflösen von Menschentrauben, in denen es aggressiv wurde. Eine endgültige Bilanz zu Festnahmen und Verletzten stand zunächst aus; die Auswertung der Videoaufnahmen läuft, hieß es am Abend.
Die Kundgebung war nicht nur groß, sie war auch professionell inszeniert. Bühnen, Sound, Merch – vieles wirkte wie ein Festival. Das Label „Free Speech Festival“ ist dabei mehr als Marketing. In Reden und Slogans wurde Redefreiheit zum Fixpunkt: Gegen „Cancel Culture“, gegen öffentlich-rechtliche Medien, gegen „linke Eliten“. Für die Gegenseite ist genau das eine Verdrehung: Nicht die freie Rede, sondern gezielte Hetze stehe im Zentrum – mit realen Folgen für Minderheiten und den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Wer die Bilder betrachtet, sieht nicht nur britische Fahnen, sondern auch europäische Symbolik. Rechte Aktivisten aus Frankreich, den Niederlanden, Deutschland und Skandinavien nutzen ähnliche Motive: nationale Souveränität, Anti-Migrations-Rhetorik, Kulturkampf. Telegram-Gruppen, Livestreams auf X und Spendenkampagnen schaffen eine Infrastruktur, die Aktivismus planbar macht – vom Mieten der Busse bis zu Übernachtungen in der Peripherie. Die Veranstaltung in London bestätigte, dass diese Infrastruktur inzwischen Massen mobilisieren kann.
Für die Stadt bedeutete der Tag eine Kraftprobe. Fußballspiele, Tourismus, das übliche Wochenendaufkommen – alles traf auf die Absperrungen im Zentrum. Je länger die Auflagen und Sperrungen dauern, desto teurer wird es für die öffentliche Hand. Eine offizielle Kostenschätzung gab es noch nicht, erfahrungsgemäß summieren sich solche Lagen aber schnell zu Millionenbeträgen für Polizeieinsätze, Überstunden und Verkehrslenkung.
Politisch verschiebt die Demo die Debatte. Labour wird die Frage beantworten müssen, ob ihre Linie in der Migrationspolitik – härter an der Grenze, schneller im Verfahren, mehr Rückführung bei abgelehnten Anträgen, zugleich Aufnahme Schutzbedürftiger – trägt. Die Konservativen wiederum werden die Parole „Stop the boats“ weiter hochhalten und der Regierung Versagen vorwerfen. Dazwischen wächst eine rechte Protestkultur, die sich weniger an Parteien bindet als an Themen und Gesichter wie Robinson.
Ein Blick auf die Gegenseite: „Stand Up to Racism“ und verbündete Gruppen setzen auf Präsenz, Bündnisse und lokale Arbeit. Ihre Botschaft lautet: Integration gelingt nicht durch Abschreckung, sondern durch funktionierende Kommunen, Sprachkurse, schnelle Verfahren und legale Wege. Sie verweisen auf die britische Realität: Krankenhäuser und Pflege, Logistik und Gastronomie – viele Branchen sind auf Zuwanderung angewiesen. Das ist keine Romantik, sondern Alltag.
Streit gibt es auch um die Zahlen. Organisatoren neigen dazu, hoch zu greifen, Polizeien bleiben konservativ. Die Metropolitan Police nutzte Helikopterbilder, Kamerazählungen und Erfahrungswerte aus Großlagen, um zur Größenordnung „über 100.000“ zu kommen. Für die politische Wirkung ist die genaue Zahl fast zweitrangig. Sichtbar ist: Rechte Gruppen können in Großbritannien wieder Massen auf die Straße bringen – und schaffen es, internationale Verstärkung anzulocken.
Wie es weitergeht? Die Sicherheitsbehörden bereiten sich auf weitere Protestlagen vor, besonders an Wochenenden mit hohen Besucherzahlen. Ermittler werten Material aus, um Gewalttäter zu identifizieren. Lokalräte und Community-Organisationen suchen derweil Wege, Spannungen zu entschärfen – von Dialogformaten bis zu klaren Grenzen bei Hass und Gewalt. London bleibt ein Brennglas für Konflikte, die weit über die Stadt hinausreichen: Migration, Identität, Vertrauen in Politik und Medien.